Kaum bekannte Firmengeschichte (Gießener Allgmeine vom 17.04.2021)

Wer erinnert sich nicht an das Geräusch, wenn sich beim Einkaufen mit einem lauten Ruck die Lade der Registrierkasse öffnete, der Kassenbon gedruckt und Beträge eingetippt wurden? Kaum einer weiß, dass damit auch ein fast übersehenes Kapitel Gießener Industriegeschichte verbunden ist. Denn hier gab es von 1946 bis 1980 die Lahn-Registrierkassen GmbH. Helmut Fritz, Sohn des Firmenmitbegründers Willy Fritz, kann davon viel erzählen – und sucht Zeitzeugen und Dokumente.

Als im Rahmen der Stadtlabor-Kampagne zur Neukonzeption des Obsrhessischen Museums Menschen gefragt wurden, welchen Gegenstand sie einmal im Museum ausgestellt wissen wollen, da hatte Helmut Fritz aus Herborn ein besonders gewichtiges Exemplar dabei: eine alte Registrierkasse aus dem früheren Laden "Schuh Karl" in der unteren Bahnhofstraße. Die musste wegen ihres Gewichts eigens mit einer Sackkarre zum Fototermin gebracht werden.

Mit der Kasse verbindet der heute 75-jährige ehemalige Lehrer ganz persönliche Erinnerungen, denn Helmut Fritz’ Vater Willy war Registrierkassentechniker und gründete mit einem Kompagnon 1946 in Gießen die Lahn-Registrierkassen GmbH. Der Sohn kümmert sich heute im 15-köpfigen "Freundeskreis für die Geschichte der frühen Gießener Ladenkassen-Industrie" um die Dokumentation der Firmengeschichte und hofft, dass die eines Tages auch Museums-Thema sein wird.

Wo heute im Schiffenberger Tal die August-Hermann-Franke Schule steht, wurden einst Registrierkassen entwickelt und gebaut. Und auch auf dem ehemaligen Gail-Gelände im Erdkauter Weg lassen sich die Anfänge der Lahn-Registrierkassen GmbH verorten.

Deren Geschichte begann streng genommen schon im Jahr 1929. Willy Fritz war damals als Techniker beim Nationalregistrierkassenwerk in Berlin angestellt, das in der NS-Zeit zur National-Krupp Registrierkassen GmbH wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Produktion eingestellt und Willy Fritz als Soldat nach Gießen geschickt. Hier kümmerte er sich bis 1944 als Werksmeister am Alten Flughafen um die Wartung der Bordgeräte von Flugzeugen. Bei einem Fronteinsatz in Ost-Preußen wurde er verwundet und geriet in Kriegsgefangenschaft. "Weil er das gut kannte", so erinnert sich sein Sohn Helmut, floh er nach seiner Entlassung mit seiner Familie nach Gießen. Dort begegnete er Kurt Ziegler.

Gründung 1946 im zerbombten Gießen

Die beiden Männer taten sich zusammen und machten Undenkbares möglich. Sie gründeten 1946 im zerbombten Gießen die Lahn-Registrierkassen GmbH, eine der ersten Neugründungen der Stadt. Unter schwierigen Bedingungen mussten solche "Start Ups", wie man heute sagen würde, vor 75 Jahren entstehen. So gab es in der Fabrik nur ein einziges Telefon. Die Korrespondenz erledigte man auf alten Schreibmaschinen. Konstruktionszeichnungen gab es nur am Reißbrett - natürlich per Hand.

Gießen lag damals komplett in Trümmern und um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, konstruierten die Männer zunächst Spinnräder, da sie zuerst nur eine Drechselbank zur Verfügung hatten. Willy Fritz fuhr mit der Eisenbahn über Land - vom Hessischen Hinterland bis in den Bayerischen Wald - und tauschte Spinnräder gegen Schinken. Butter oder Werkzeuge ein. zum Teil auch gegen Rohstoffe.
So viel Erfmdungsreichtum und Geschäftssinn müssen auch den Gießener Tabakindustriellen Dr. Georg Gail beeindruckt haben, denn der stellte den beiden Unternehmern ein leerstehendes Gebäude im Erdkauter Weg. heute Teil des Polizeipräsidiums, zur Verfügung - anfangs sogar kostenlos. "Er wollte, dass wieder Leben reinkommt", berichtet Helmut Fritz.

Das Unternehmen, bei dessen Gründung auch Bürgschaften von Stadt und Kreis sowie Kredite der örtlichen Banken und Sparkassen halfen, wuchs stetig. Schon 1948 hatte man bereits um die 100 Mitarbeiter. Viele Vertriebene, hauptsächlich Ostpreußen, fanden hier eine erste Arbeitsstelle. Die Eröffnungsbilanz von 1948 belief sich auf über 138000 DM.

In den 1950er Jahren ermöglichte das Land Hessen mit einem Förderprogramm der Registrierkassenfirma enorme Investitionen und eine Modernisierung der Produktion. Aufgrund dieser Beteiligung wurde vom Land, als dem neuen Mehrheitsbesitzer, auch eine neue Firmenleitung eingesetzt und die ehemaligen Firmengründer schieden aus. In diesen Jahren expandierte die Firma und die Kassen wurden auf vielen Industriemessen - vor allem in Hannover - ausgestellt. Ende der 1950er Jahre fand sich in dem aus Hannover stammenden Max Matthiesen weder ein privater Investor der die Firma übernahm und weiter stark investierte.

Unter dem Namen Max Matthiesen GmbH wurde im Schiffenberger Weg ein neues Firmengebaude errichtet um Platz für die mittlerweile rund 300 Mitarbeiter schaffen. 1971 übernahm der US-Konzern National Cash Registry (NCR) die Gießener GmbH.

Kassen zeigen den technischen Wandel

Helmut Fritz und sein "Freundeskreis", zu dem nicht nur drei ehemalige Mitarbeiter aus Oppenrod, Atzbach und Gießen gehören, sondern auch Nachkommen weiterer Mitarbeiter, kann die Firmengeschichte mit zahlreichen Dokumenten belegen. Er freut sich über jeden weiteren Hinweis, etwa zu Verkaufs oder Mitarbeiterzahlen des Unternehmens sowie über Informationen zum Verbleib alter Registrierkassen, von denen einige sogar ins Ausland exportiert wurden. Denn Registrierkassen geben auch einen Einblick in den technischen Wandel der Zeit. So konnten die manuell betriebenen Kassen aus den Anfangsjahren beispielsweise nur die Tages-Gesamtsumme errechnen. In den 50er Jahren wurden elektromechanische Kassen konstruiert, die nicht nur die eingegebenen Beträge addieren, sondern auch Kassen-bons ausdrucken konnten.

Unterstützung vom Stadtarchivar

Die gewichtigen Stücke wurden aus unzähligen Einzelteilen zusammengebaut. So auch die Registrierkasse aus dem früheren "Schuhhaus Karl" die nach Geschäftsaufgabe in den Besitz von Helmut Fritz überging und die er gerne als Objekt im Oberhessischen Museum sehen würde. Die wurde aus rund 2500 Einzelteilen zusammengebaut und hat eine ganz spezielle Vorrrichtung: Auf eine Platte oberhalb der Lade konnte man Münzen fallen lassen, um am Klang zu erkennen, ob es sich um Falschgeld handelt.

Helmut Fritz ist sicher sicher, dass diese Kasse - und auch andere Dokumente zur Firmengeschichte - durchaus museumswürdig sind und findet dabei in Stadtarchivar Christian Pöpken einen versierten Fürsprechner. "Es handelt sich um ein sehr spannendes Thema, das wohl gerade Angesichts des Strukturwandels von der Industrie zur Dienstleistungsgesellschaft große Aufmerksamkeitverdient und erhält", schreibt Pöpken in einem Brief an den Freundeskreis. Dass Freundeskreis das Stadtarchiv als Bestimmungsort für die zu sammengetragenen Dokumente und Gegenstände zur Gießener Ladenkassenindustrie ausgewählt habe, freue ihn, schließlich handele es sich um eine fast vergessene Epoche der Industrie in Mittelhessen.. Pöpken sagt seine Unterstützung zu, dass vielleicht eines Tages Teile der Sammlung auch bei Ausstellungen im Oberhessischen Museum für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Aktuell arbeitet der Freundeskreis an einer Liste zur Dokumentation aller Fundstücke.

Hinweise gesucht

Der Freundeskreis der Lahn-Registrierkassen GmbH sucht weiter nach Zeitzeugen, die bei den damaligen Firmen Lahn-Kassen, Max Matthiesen oder NCR beschäftigt waren, und bereit sind, sich interviewen zu lassen. Existieren noch Dokumente (petsönhche oder firmenbezogene?) oder sogar noch Exponate oder Erinnerungsstücke? Die könnten so Eingang in das Stadtarchiv oder Oberhessische Museum finden. Kontakt mit Sprecher Helmut Fritz kann man aufnehmen per Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. oder über seine Postadresse. Helmut Fritz, Schlangenpfad 10, 35745 Herborn.

(entnommen der Gießener Allgemeinenen vom 17.04.2021, Autor: Karola Schepp)

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